Den Kontakt zu den Eltern abzubrechen, ist meist ein Tabuthema – es passiert, aber niemand spricht darüber. Zu beschämend und schmerzhaft ist dieses Ereignis, bei dem es um das eigene Sein geht, die «heilige» Familie, die Wurzeln, die Heimat.
In meinem Beratungsalltag ist genau das immer häufiger ein Thema. Ratsuchende sind vorwiegend Frauen zwischen 35 und 60 Jahren, die die Beziehung, meist zur Mutter, als unerträglich, erniedrigend, abwertend erleben – sich weder gesehen, gehört, akzeptiert oder geliebt fühlen. Sie fragen sich, was sie falsch gemacht haben, wie das Zusammenleben mit den Eltern, Mutter oder Vater, so unerträglich werden konnte. Was müssen sie ändern oder wie können sie lernen, mit dieser Situation zu leben? Wie werden sie ihre Schuldgefühle los?
Da ist Frau H., 44 Jahre alt, deren Mutter jedem Konflikt mit ihrer Tochter aus dem Weg geht und ihren Unmut mit Schweigen und Liebesentzug kundtut. Frau S., 52 Jahre alt, hat noch nie ein lobendes Wort von ihrem Vater gehört. Sie erntet immer nur Kritik, weil sie angeblich alles falsch macht. Obwohl sie seit Jahren eine eigene Firma erfolgreich leitet, fühlt sie sich noch immer nicht gut genug und kann es sich selbst und ihrem Vater nie recht machen. Herr S., 56 Jahre alt, dessen Mutter alles nur negativ sieht und sich dabei im Pessimismus verliert. Der Sohn fühlt sich nicht wahrgenommen. Und Frau L., 37 Jahre alt, die von ihrer Mutter noch immer bevormundet wird, obwohl sie verheiratet und Mutter von vier Kindern ist.
Dies sind Beispiele aus meinem Praxisalltag. Sie zeigen auf, dass sich die Schatten der Vergangenheit auf die Gegenwart legen, wenn die alten Muster nicht gelöst und durchbrochen werden. Meist sind es die Kinder, die den Kontakt zu den Eltern abbrechen – manchmal langsam und schleichend, manchmal mit einem lauten Knall, in einer altbekannten, schmerzlichen Situation, die dann das bereits randvolle Fass zum Überlaufen bringt. Von aussen wirkt dieser Vorgang häufig unerwartet, abrupt, nicht nachvollziehbar und für die Eltern kommt er fast immer aus heiterem Himmel. In der Regel ist dem nicht so. Eine langjährige Folge von Verletzungen und Enttäuschungen aufseiten der Kinder führt zum Kontaktabbruch. Sie fühlen sich den Eltern oder einem Elternteil gegenüber ohnmächtig . Versuche, die Beziehung zu den Eltern zu verbessern, sind gescheitert und es fehlt die Kraft, diesen Zustand noch länger zu ertragen und immer weiter verletzt zu werden. Es geht dabei nicht um die Bestrafung der Eltern, sondern eher darum, selbst zu überleben.
Selten ist den Eltern bewusst, dass auch sie Fehler gemacht haben und so erscheint es vielen unmöglich, ihre Schuld einzugestehen. Zu gross ist die Angst, das eigene Leben und Handeln zu hinterfragen und als Versager zu gelten. Mit diesem Verhalten wird dem Kind signalisiert, dass mit ihm etwas nicht stimmt und dass man sein Wesen nicht akzeptiert. Der Selbstwert des Kindes orientiert sich immer an der Beurteilung der Eltern und an der Art und Weise, wie es behandelt wird.
«Meine Mutter nimmt meine Gefühle nicht ernst», «Ich bin ein Sensibelchen und überfordert», «Ich bin zu klein und kann meine Aufgaben nicht bewältigen», «Du bist zu dick und deshalb mag dich keiner» sind Glaubenssätze, die die Kinderseele schwer erschüttern. Sie stammen meist von Eltern, die ihren Kindern das Heranwachsen verweigern und nicht die notwendige Unterstützung geben, damit sie lernen, die eigenen Gefühle zu regulieren. Im schlimmsten Fall lernt das Kind, nach bestimmten Mustern zu funktionieren und sich anzupassen. Die Reaktionen sind so individuell wie die Kinder selbst. Manche fügen sich, andere werden rebellisch oder ringen um Aufmerksamkeit und wieder andere zeigen sich traurig oder aggressiv.
Jede Mutter, jeder Vater versucht sein Möglichstes für seine Kinder. Aber manchmal reicht das nicht aus, um eine entwicklungsfördernde Eltern-Kind-Beziehung aufzubauen. Eltern handeln vorwiegend aus erlernten Mustern, die in der eigenen Kindheit angelegt wurden und sie sind häufig selbst Opfer ungünstiger Familienverhältnisse.
Es lohnt sich also oftmals, den Blick in die Kindheit der Eltern zu richten, um zu verstehen, aus welchem Grund die Eltern vielleicht keine Worte der Anerkennung äussern, keine Gefühle zeigen können, Kommunikation nie gelebt haben, Abwertungen an der Tagesordnung sind, Bildung einen geringen Stellenwert hat, Alkohol- oder Spielsucht schweigend akzeptiert werden usw.
Es geht nicht darum, das Verhalten und das Geschehene zu entschuldigen, sondern darum zu verstehen, warum die Eltern so reagiert haben, wie sie es getan haben. Wahrscheinlich haben auch sie sich vorgenommen, es besser als ihre Eltern zu machen, weil sie wollen, dass es ihren Kindern gut geht. Doch häufig haben sich solche Verhaltensweisen wegen einer seelischen Störung oder mangelnder Fürsorge entwickelt und wurden von Generation zu Generation weitergegeben, weil nicht erkannt wurde, dass sie entwicklungshemmend und ungesund sind.
Für meine Klienten besteht der erste Schritt darin, sich bewusst zu machen, dass ihr Leben nicht mehr von den Eltern abhängig ist und dass sie ein liebenswertes Wesen besitzen, das eigene Entscheidungen treffen kann. Der Selbstwert ist nicht länger vom Verhalten der Eltern abhängig. Allerdings kann fehlende Zuneigung nicht nachträglich eingefordert werden. Das kann sehr schmerzhaft sein oder auch grosse Wut auslösen.
Im nächsten Schritt geht es darum, zu lernen, sich selbst zu lieben, sich anzunehmen in seiner Ganzheit als Mensch und achtsam mit sich umzugehen. Der eigene Wert ist nicht abhängig von den Erwartungen der Eltern oder anderer Personen. Jeder muss Verantwortung für sein Leben und sein Handeln selbst übernehmen.
Die Aufarbeitung findet wenn möglich mit professioneller Begleitung statt, in einem geschützten Rahmen mit einer Vertrauensperson. Gerne begleite ich Sie auf dem Weg zu mehr Selbstliebe und Selbstvertrauen.
Wer sich vorab in das Thema einlesen möchte, dem empfehle ich folgende Bücher:
Kontaktabbruch in Familien, Claudia Haarmann
Das war’s: Wenn Erwachsene Kinder den Kontakt zu ihren Eltern abbrechen, Dorothee Döring